Warum fällt es uns besonders schwer, zu akzeptieren, was wir nicht sehen?
Die Selbsthilfegruppe „FASD-perfekt“ aus Celle richtet, gemeinsam mit dem Landkreis Celle und dem Landesverband der Pflege- und Adoptivfamilien PFAD Niedersachen e. V., einen Fachtag aus, um die Herausforderungen der Menschen mit FASD sichtbar zu machen und über die fatalen Folgen von Alkohol während der Schwangerschaft aufklären. In verschiedenen Fachvorträgen soll die Situation der Menschen mit FASD dargelegt und dafür sensibilisiert werden, wie schwer sich der Alltag für Betroffene gestaltet. Das Wissen und die Anerkennung der Tatsache, dass Menschen mit FASD meistens wollen aber nicht können, tragen enorm zur Lebensqualität und positive Perspektive für die Betroffenen bei.
Der Fachtag richtet sich sowohl an medizinische-, therapeutische und pädagogische Fachkräfte, als auch an interessierte Bürgerinnen und Bürger.
Eine Anmeldung ist ab sofort über die E-Mail-Adresse: gesundheitsregion@lkcelle.de möglich.
„Alkohol in der Schwangerschaft“ – Die unterschätzte Gefahr
Autorin: Dagmar Elsen, erschienen im Schulz-Kirchner Verlag – 232 Seiten
Noch ein Buch über FASD könnten die Leser*innen, die sich bereits in der „FASD-Community“ tummeln, denken. Relativ schnell wird klar, dass es sich um ein bisher in der Form noch nicht vorliegendes Buch handelt. Hier geht es im Kern nicht um die Beschreibung und Entstehung von FASD sondern eher um die großen Fragen zum gesellschaftlichen, politischen und behördlichen Umgang bzw. die Unterlassung mit den Besonderheiten dieser Behinderung und deren Entstehung.
Die Autorin, Dagmar Elsen ist Journalistin und durch einen in ihrem unmittelbaren Umfeld mit FASD lebenden Jungen auf das Thema aufmerksam geworden. Eben dieser kluge Junge hat erkannt, dass sie doch genau die Richtige ist, über ihn und seine vermeidbare Behinderung zu schreiben. Er hat sie ermutigt, ja vielleicht sogar aufgefordert, über FASD zu berichten; es darf doch nicht sein, dass noch mehr Kinder von dem gleichen Schicksal ereilt werden. Das ist ein Auftrag, den kann und darf man nicht ablehnen! Und so hat sich Dagmar Elsen auf den Weg gemacht, mit vielen Fragen, Hoffnungen, Wünschen und auch ein bisschen Wut und Unverständnis im Gepäck.
Dagmar Elsen kommt gleich zur Sache! Da wird nichts hinter vorgehaltener Hand schöngeredet oder bagatellisiert, auch die sehr schmerzhaften und kaum erträglichen Geschichten serviert sie schonungslos und mit einer absoluten Offenheit. Sie hat auf ihrem Weg mit vielen Menschen, die in welcher Form auch immer mit FASD zu tun haben, gesprochen und sich ein Bild gemacht. Da sind die Menschen mit FASD: Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen, Psycholog*innen, Ärzt*innen, Forschende, Hebammen, Eltern einschließlich Pflege- und Adoptiveltern, Ehrenamtliche und Aktivist*innen. Sie beleuchtet sämtliche FASD-betreffende Systeme: Familie, Schule, Jugendhilfe, Eingliederungshilfe, Arbeitsagenturen, Wohnformen und Justiz. Besonders auch den leiblichen Müttern räumt sie wertschätzenden Raum ein.
Die Autorin schafft es wunderbar, die vielen Aussagen und Geschichten so zu sortieren und miteinander zu verweben, weshalb schnell klar wird, dass FASD in Anbetracht seiner weitreichenden, vielschichtigen und gravierenden Folgen, sowohl humanitär als auch monetär, trotz vieler Bemühungen von Selbstvertretungsverbänden und Engagierten Menschen, politisch, gesellschaftlich und im gesamten Behördenapparat fahrlässig unterpräsentiert ist.
Bei allen unterschiedlichen Expertisen, Lebenssituationen und Menschen kommt die Autorin doch immer wieder zu dem Schluss, dass es einfach nicht reicht. Gut, dass Dagmar Elsen mit Experten und Fachleuten spricht, die praxiserprobte Lösungen einbringen und für einen Paradigmenwechsel, gerade in der Pädagogik plädieren. Lösungswege und kreative Ideen liegen auf dem Tisch; sie wollen und müssen umgesetzt werden.
Aktuell gibt es noch nur wenige erfreuliche Einzelfälle, in denen Früherkennung, gutes Helfernetzwerk und soziales Umfeld gut funktionieren und den Menschen mit FASD einen schützenden Rahmen bieten. Eher noch regelhaft ist es der Fall, dass Menschen mit FASD und ihre Bezugspersonen an sämtlichen, das gesellschaftliche Leben betreffende Stellen, vor teils unüberwindbaren Hürden stehen und nicht selten einen lebenslangen Spießrutenlauf durchleiden.
Jedem, der das Buch (hoffentlich) liest, wird unmissverständlich klar, dass sollte sich nicht schnellstmöglich hinsichtlich Prävention, Akzeptanz durch Anerkennung von FASD als Behinderung und verlässlichen Hilfen eine umfassende Veränderung einstellen, wird Millionen Menschen mit FASD ein würdiges Leben nicht möglich sein.
Nevim Krüger
https://www.skvshop.de/ergotherapie/alkohol-in-der-schwangerschaft-978-3-8248-1303 -2.html
FASD – Sind die Mütter der Ursprung aller Probleme?
Von moralischer Überlegenheit und Stigmatisierung!
Um es gleich vorwegzunehmen: NEIN, die Mütter sind nicht der Ursprung aller Probleme in Bezug auf FASD! Sie sind aus der natürlichen Begebenheit heraus die Verursacher und diese Last kann ihnen erst einmal niemand nehmen.
Erfreulicherweise rückt das Thema FASD immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit. Damit einhergehend bleibt es nicht aus, dass die Entstehung dieser Behinderung ebenfalls detailliert erklärt wird. Nämlich, dass FASD durch den vorgeburtlichen Konsum von Alkohol entsteht und das ungeborene Kind schwer schädigen kann.
Alkohol ist die Volksdroge Nummer 1. Zu allen Gelegenheiten präsent und immer zu haben. In unserer Kultur stößt es eher auf Verwunderung nicht zu trinken, als das bereits zum Frühstück mit Sekt angestoßen wird. In der Werbung vermittelt Alkohol Geselligkeit, Freiheit, Entspannung und Genuss. Wer kennt sie nicht, die Empfehlung von Ärzt*innen, dass ein Sekt den Kreislauf ankurbelt und Rotwein so gesund ist, ja sogar beim Abnehmen helfen soll.
In Deutschland geben 26 von 100 Frauen an, gelegentlich Alkohol in der Schwangerschaft zu trinken (The Lancet Global Health). Während der ersten 14 Tage der Schwangerschaft soll das Alles-oder-Nichts-Prinzip gelten, sprich wird eine Eizelle in der Frühschwangerschaft geschädigt, teilt sie sich nicht weiter und nistet sich auch nicht ein. In den meisten Fällen wird eine Schwangerschaft jedoch erst später festgestellt und wenn dann Alkohol konsumiert wird, kann er eben das entstehende Kind bereits schädigen; je nach Menge, Veranlagung und allgemeiner Verfassung der Mutter. Es kann also jede Frau treffen, die nicht kategorisch auf Alkohol verzichtet im gebärfähigen Alter. Dann gibt es Frauen, die sind tatsächlich alkoholabhängig und können gar nicht ohne Hilfe frei entscheiden, ob sie aufhören zu trinken oder nicht. Für den Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft gibt es viele Gründe und wenn es richtig ungünstig läuft, reicht ein Glas zur falschen Zeit. Sicher ist, dass Alkohol trinkende Schwangere keineswegs ein Unterschichtenphänomen darstellen.
Nun kommen einige Kinder mit vorgeburtlichen Schäden auf die Welt und die allermeisten Familien bringen die Entwicklungsverzögerungen, Impuls- und Regulationsstörungen, vielleicht sogar die fazialen Auffälligkeiten, Distanzlosigkeit, die geringe Gefahreneinschätzung und Frustrationstoleranz, die Gedeih- und Essstörungen uvm. überhaupt nicht mit dem Alkohol während der Schwangerschaft in den Zusammenhang. Ein großer Teil der Frauen geht davon aus, dass es ausreichend war, nach Kenntnis über die Schwangerschaft, auf Alkohol verzichtet zu haben. Gott sei Dank ist das in vielen Fällen auch so; leider nicht immer.
Die FASD ist mittlerweile mit ihren vielen Facetten bei immer mehr Pädiatoren*innen, Kinderpsycholog*innen und Ärzt*innen angekommen und die Frage: „Haben Sie während der Schwangerschaft getrunken?“ wird immer öfter gestellt. Wie muss sich eine Mutter fühlen? Schuldig, hilflos, ausgeliefert, beschämt? Es erfordert schon eine gewisse Stärke, Mut und natürlich Liebe, hier wahrheitsgemäß zu antworten. Die Wahrheit ist ein großer Baustein für eine fundierte Diagnose. Und eine Diagnose ist die größte Chance, die ein Kind mit FASD erhalten kann. Nur die korrekte Diagnose öffnet das Tor für die richtigen Therapien (oder eben auch nicht!) sowie den schützenden, fördernden Umgang mit der Behinderung. Ein großer Teil der Kinder mit FASD lebt in Pflege- oder Adoptivfamilien. Diesen Familien fällt der Schritt zur Diagnose deutlich leichter. Sie müssen nichts eingestehen und haben somit auch keine „Schuld“ auf sich geladen. Des Weiteren erhalten Pflegefamilien grundsätzlich bereits Hilfe durch Jugendämter bzw. Eingliederungshilfe.
Dieser Beitrag soll niemanden glorifizieren oder abwerten. Er soll dazu beitragen, die leiblichen Mütter aus der Schuld-und Scham-Schublade hin in die gemeinsame Verantwortung zu begleiten. Sie brauchen kein Getuschel hinterm Rücken, sie brauchen kein Mitleid, sie brauchen keine gerümpfte Nase und sie brauchen auch keine Lobdudelei. Sie brauchen vor allem Akzeptanz, Hilfen für ihre Kinder, Wertschätzung und die Unterstützung im Alltag, die den Kindern und ihnen ein gutes Leben ermöglicht. Sie brauchen die Chance auf Vernetzung, Gehör und eine Öffentlichkeit, die ermutigt. Den Kindern sollte schon früh Raum für ihre Verarbeitung von Wut und Verzweiflung über ihre Behinderung und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Hürden im Leben gewährt werden. Auch hier sollten die Mütter jederzeit Unterstützung und Beistand erhalten.
Letztlich brauchen wir alle einen verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol in Bezug auf die ungeborenen und ungeschützten Kinder sowie die Akzeptanz, Teilhabe und bedingungslose Unterstützung von Menschen mit FASD!
Nevim Krüger
April 2022
In der Sendung vom 14. Januar 2019 berichtete das Magazin Panorama über die Folgen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft:
NDR https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Alkohol-in-der-Schwangerschaft-lebenslanger-Schaden,fasd106.html
Hier nochmal ein sehr informatives Video zum Thema:
Video https://www.youtube.com/watch?v=O9V3Jo841zA
Das Team bleibt am Thema dran!